Paracas: Höhepunkt andiner Textilkunst

Paracas: Höhepunkt andiner Textilkunst
Paracas: Höhepunkt andiner Textilkunst
 
Für jeden Liebhaber und Sammler von Textilien, aber auch für jeden Fachmann steht »Paracas« nicht nur für ein Höchstmaß altperuanischer Textilkunst, sondern auch für ein einzigartiges Medium der Kunstgeschichte, die Stickerei. Die Kultur von Paracas erhielt ihre Bezeichnung nach der gleichnamigen Halbinsel in der Nähe der südperuanischen Hafenstadt Pisco; weist schon die gesamte Küste von Peru ein extrem trockenes Wüstenklima auf, so haben sich an der noch regenärmeren südlichen Küste über die Jahrtausende hinweg die fragilsten Produkte und Kunstwerke aus Holz, Baumwolle, Wolle und sogar Federn in den Gräbern erhalten.
 
Seit den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts fand man auf der Halbinsel Paracas ausgedehnte Gräberfelder, die mit einem reichhaltigen und eindrucksvollen Inventar ausgestattet waren. Die älteren, ab etwa 700 v. Chr. anzusetzenden Paracas-Cavernas-Schachtgräber enthielten in den großen Grabkammern zahlreiche, in mehrere Lagen von Geweben eingehüllte, hockende Tote mit reichen Beigaben, unter denen besonders die Keramik herausragt. Sie beweist eine originäre Tradition in Form und Verzierungstechnik (Ritzdekor mit dickem, pastosem Farbauftrag nach dem Brennen), jedoch zeigt sie in den Inhalten - Darstellungen von Raubkatzen mit mächtigen Reißzähnen - den deutlichen Einfluss von Chavín.
 
Außerdem entdeckte man insgesamt mehr als 400 Mumienbündel — daher die Bezeichnung »Paracas-Necropolis« (= Paracas-Totenstadt) —, die in steingekleideten Gruften als Massenbestattungen beigesetzt worden waren. Bis zu 40 Mumienbündel lagen in einer Grabkammer. Sie stammen aus einer jüngeren Periode und werden bis 200 n. Chr. datiert. Die Toten sitzen in Hockerstellung in Körben, manche tragen Schmuckstücke, und oft sind ihnen Speisen beigegeben. Vor allem aber hüllte man sie in mehrere Lagen von Stoffen — eines der größten Mumienbündel enthielt 44 kunstvoll gearbeitete und 25 einfache Gewebe — und gab ihnen gesondert Textilien bei, unter denen sich jene befanden, denen Paracas seine Einzigartigkeit und Berühmthei verdankt.
 
Diese oft bis zu 3 m langen Totentücher (»manto«) bestehen aus einem dünnen Baumwollgewebe, das mit mehrfarbigen, figuralen Stickereien aus Alpakawolle verziert wurde. In den Mumienbündeln befanden sich ferner bestickte, sorgfältig gefaltete Stoffe, die unbenutzt oder manchmal sogar unvollendet und demnach eigens für den Totenkult angefertigt waren. Sie enthielten aber ebenso reich bestickte Kleidungsstücke wie Hemden, Tuniken, Umhänge, Turbane, Kopfbänder und Lendenschurze, die der Verstorbene zu Lebzeiten getragen hatte und die auf seinen hohen Status sowohl im Diesseits als auch im Jenseits hinweisen.
 
Nach der Anordnung der Stickereien lassen sich die Paracas-Stickereien in zwei Stilgruppen einteilen: Streifen (Bänder oder Bordüren, vielleicht aus ursprünglich nur gestickten Borten entwickelt) und Felder. Wie die Bezeichnung schon sagt, bestehen die farbigen Stickereien des »älteren Streifenstils« lediglich aus (senkrechten, waagerechten oder diagonal verlaufenden) Streifen, die oftmals nur die Ränder der Textilien verzieren; manchmal aber verlaufen die gestickten Streifen auch in Reihen angeordnet über die Mitte des einfarbigen Grundgewebes. Die Darstellungen der nur in Rot, Grün, Gelb und Blau gehaltenen Stielstichstickerei sind oft schwer zu erkennen, weil die farbigen Fäden des Grundgewebes für die Konturen der Figuren miteinbezogen wurden und sie sich daher schwer voneinander und vom umgebenden Grundgewebe abheben. Aufgrund der relativen Beengung durch die schmalen Streifen sind einerseits die Formen durch eine übereinander gesetzte und ineinander übergehende Anordnung beschränkt, andererseits sind auch die Inhalte, das heißt die figürlichen Darstellungen, in einem engen Kanon gehalten. Für künstlerische Kreativität war kaum Freiraum vorhanden. Die charakteristischen Motive sind mythische Wesen in menschlicher oder Tiergestalt (Raubkatzen, Vögel oder Schlangen). Eine oft wiedergegebene Figur scheint von besonderer Bedeutung gewesen zu sein: Ihre Charakteristika sind der U-förmige »lächelnde« Mund und die auffallend großen, hexagonalen Augen, die ihr die Bezeichnung »Augenwesen« einbrachten. Oft wird dieses gemeinsam mit menschlichen Trophäenköpfen abgebildet, die aus seinem Kopf oder Körper herauswachsen. Generell diente also der Streifenstil zur Tradierung von formalen und eher abstrakten Konzeptionen.
 
Im Gegensatz dazu gewährt uns der etwas später aufkommende und bis zum Ende der Paracas-Kultur andauernde Felderstil ein lebendiges Bild der realen Welt der Menschen von Paracas. Nun bedeckte eine durchgehende Wollstickerei das gesamte Grundgewebe, die Figuren wurden »frei« oder schachbrettartig gesetzt, und dazu wuchs die Palette mit 19 verschiedenen Farben erheblich an. Tiere und Pflanzen aus der realen Welt wurden präsentiert: allen voran verschiedene Vogelarten (Meeres- und Landvögel), gefolgt von Raubkatzen und Schlangen, weniger häufig Fische, Lamas und Alpakas, Nagetiere, Affen und Eidechsen; auch einige Nahrungspflanzen lassen sich identifizieren. Sogar über rituelle Kulthandlungen und ihre Darsteller geben die Stickereien nun Aufschluss: Da treten in erster Linie menschliche Gestalten auf, die jedoch durch Maskenkostüme (Mundmasken, Kopfzierrate, Körperbemalung) bestimmte Geistwesen personifizieren. Die Darstellungen von Tieren und Pflanzen der realen Welt wiederholten sich und sind mit menschlichen Figuren kombiniert; manchmal finden sich sogar mehrere verschiedene Tiergeister mit einem Menschen vereint. Auf den Totentüchern scheinen selbst Schamanen dargestellt zu sein, die den Eindruck erwecken, als würden sie schweben oder fliegen — ein Phänomen, von dem bis heute aus Tranceerlebnissen berichtet wird.
 
So kann man diese einzigartigen Stickereien, die später nie wieder hervorgebracht wurden, als Ideogramme oder Symbolsprache ansehen. Sie teilen uns einiges über die Sicht der realen und der übernatürlichen Welt der Menschen von Paracas mit. Möglicherweise war es eine einheitliche Sicht, in der es keine Trennung zwischen real und übernatürlich gab, wie etwa in unserem westlichen Denken. Wahrscheinlich fällt uns auch deshalb das Lesen dieser Sprache so schwer.
 
Dr. Peter Kann
 
 
Alcina Franch, José: Die Kunst des alten Amerika. Aus dem Französischen. Freiburg im Breisgau u. a. 21982.
 
Brücken in die Zukunft. Textile Kunst vor Kolumbus, bearbeitet von Ferdinand Anton. Ausstellungskatalog Galerie Sailer, Salzburg. Salzburg 1992.
 Lavallée, Danièle und Lumbrerars, Luis Guillermo: Die Andenvölker. Von den frühen Kulturen bis zu den Inka. Aus dem Französischen und Spanischen. München 1986.

Universal-Lexikon. 2012.

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